Viele Kurse und Bücher verzichten zunächst voll auf Kanji. Statt dessen wird zunächst nur in Romaji gelehrt, und irgendwann auf Hiragana und Katakana erweitert. Die Kanji sind einfach zu schwer und zu viele, als daß man einen Lernanfänger sofort damit konfrontiert. Nicht wahr? - Falsch! Meiner Meinung nach. Ich möchte kurz von meiner eigenen Erfahrung erzählen, damit sich jeder ein Bild davon machen und eine eigene Meinung bilden kann, ob und wann für ihn oder sie die richtige Zeit ist, Kanjis zu lernen, oder eben nicht.
Wie eben erwähnt, habe auch ich mein Selbststudium der japanischen Sprache angefangen, während ich auf Kanji weitgehend verzichtet habe. Zwar war ich von der Schönheit dieser Zeichen, die jedem Text etwas mystisches geben - selbst wenn es sich nur um eine Einkaufsliste oder Waschanleitung handelt - von Anfang an fasziniert, doch schien es ein auswegloses Unterfangen, diese komplexen Zeichen in ihrer Fülle (für den Alltag ist ein Grundrepertoire von über 2000 Zeichen nötig!) jemals erfassen zu können. Getrieben von der Ungeduld, schnelle Erfolge erzielen zu wollen, beschränkte ich mich darauf, mit Hiragana und Katakana auszukommen. Diesen Schritt sollte man so früh wie möglich machen, und die Welt der Romaji verlassen, da die vielen ähnlichen Laute kaum zu unterscheiden sind, sobald man jedoch die Silbenschrift verwendet, werden die Unterschiede schneller deutlich und sind leichter zu behalten.
Doch genügt das? Um ehrlich zu sein: Nein. Japanisch ist gespickt mit Homonymen, was es auch so schwer macht, diese Sprache passiv zu lernen, indem man ihr einfach ausgesetzt ist. In anderen Sprachen, wie beispielsweise Englisch oder Französisch, kann man in der Regel davon ausgehen, daß (fast) alles, was man hört, eine eigene Bedeutung hat. Im Japanischen gilt das leider nicht, und so können gleich klingende Wort zig verschiedene Bedeutungen tragen. Hier helfen die Kanji aus.
Was bedeutet "kami" かみ?
- かみ: 紙 = Papier
- かみ: 神 = Gott
- かみ: 髪 = Haar
Ein Beispiel, welches sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Während einer Unterhaltung mit einer Freundin, erzählte mir davon, daß sie gerne Umziehen möchte. Allerdings sei der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen. Sie sprach von ihrem Freund und sagte mir:
「かれはくるまでまつ。」
Was bedeutet das? Ich hörte folgendes:
「かれが車で待つ。」 - "Er wartet im Auto." Ich fragte mich, von welchem Auto sie spräche, und warum er dort warten sollte, da ich den Sinn dieser Aussage nicht erfassen konnte. Doch sie klärte auf, was sie tatsächlich gesagt hatte:
「かれが来るまで待つ。」 - "Ich warte, bis er kommt." - Phonetisch sind diese beiden Sätze nahezu identisch, und eine Schreibweise in Hiragana machen den Unterschied zunichte. Zu diesem Punkt wünschte ich mir, daß man auch in Kanji spräche, um derartige Mißverständnisse zu vermeiden.(Der spitzfindige Leser mag hierbei nun kritisieren, daß wie schon angedeutet, in einer Konversation mir Kanji auch nicht weitergeholfen hätten, oder daß bei ausreichend fortgeschrittenem Level der Kontext und die Grammatik möglicherweise den Unterschied noch verdeutlicht hätten. Dem kann ich nur entgegnen: Solche Situationen kann man auch antreffen, wenn man nicht spricht, sondern Mails, Briefe, Bücher oder sonstwas schreiben bzw. lesen will. Und solange man noch kein Meister der japanischen Sprache ist, ist es meiner Meinung nach schwer oder teilweise unmöglich, grammatikalische Details genau genug oder schnell genug zu erörtern.)
Dies sollte nur ein Beispiel sein, bei dem Kanji geholfen hätten, den Sinn deutlicher zu machen. Da im japanischen in der Regel keine Trennung zwischen den einzelnen Wörtern existiert, sondern alles in einem fort durchgeschrieben wird, sind Kanji eine große Hilfe, um einen Text einfacher und flüssiger lesen zu können. Hier komme ich auch gleich zu meiner zweiten Hauptmotivation, Kanji verstehen können zu wollen. Das Lesen! Anfangs ist man stolz mit den beiden Silbenalphabeten, und freut sich, wenn man tatsächlich an einem Laden ein Schild mit der Aufschrift うどん oder ラーメン lesen kann. Allerdings sind das nur sehr wenige Ausnahmen. Ohne Kanji-Kenntnisse läuft man durch Japan wie ein Analphabet. Jedes Schild, jede Anzeige, jede Nachricht oder jede Speisekarte erscheint einem in unentzifferbaren Hieroglyphen. Sobald man seine ersten Gehversuche in dieser Kultur macht, wird man noch genug mit vielen neuen Aspekten beschäftigt sein, um sich an diesem Umstand - diesem Mißstand - nicht zu sehr zu stören. Doch sobald man tiefer Einblicken möchte, mehr verstehen möchte, sind Kanji einfach unumgänglich.
Dies führt auch direkt zu meiner Antwort auf die Anfangs gestellte fragen. Wer Kanji braucht? Jeder, der sich wirklich eindringlich und tiefgehend mit der japanischen Sprache (und Kultur?) beschäftigen möchte. Wer also lediglich genug Japanisch lernen möchte, um bei einer Reise in dieses Land eine gewisse Grundkommunikation beherrschen möchte, kann getrost auf Kanji verzichten. Für diesen Fall sind schnelle Erfolge wichtig. Hierzu empfehle ich einen nach Themen sortierten Sprachführer, wie beispielsweise Kauderwelsch, Japanisch Wort für Wort
Wer allerdings ernsthaft das Ziel hat, diese Sprache in ihrer Ganzheit zu begreifen, dem lege ich ans Herz, von Anfang an damit zu beginnen, auch die nötigen Kanji zu lernen. Kanji sind ein essentieller Bestandteil der Sprache, und unverzichtbar, um wirklich Japanisch zu lernen. Ich selbst mußte leider schmerzlich die Erfahrung machen, daß es sich später rächt, wenn man zu lange damit wartet. Die Lücke zwischen dem Sprech-Level und dem Lese-Level wird zu groß, und es ist sehr schwer, dies nachträglich aufzuholen und zu füllen. Um die Nuancen der Sprache wirklich begreifen zu können, sind Kanji nicht nur hilfreich, sondern unverzichtbar. Zunächst sind die Zeichen mit ihren vielen Strichen und komplexen Formen zwar vielleicht abschreckend, aber sie helfen ungemein beim Verständnis neuer gelernter Wörter, und beim Erkennen und Lesen.Es sind zwar sehr viele Zeichen, die man studieren muß, aber in jeder anderen Sprache fängt man auch damit an, zunächst einmal das Alphabet lesen zu können. Wer zum Beispiel Französisch lernt, muß sich beispielsweise auch mit den Unterschieden zwischen é, è und ê auseinandersetzen, anstatt einfach nur "e" zu schreiben. Im Japanischen ist es nicht anders. Darum appeliere ich an alle, die wirklich Japanisch lernen wollen: Habt keine Angst vor den Kanji, stellt Euch der Herausforderung so früh wie möglich, es wird sich auf jeden Fall lohnen!
Zum Abschluß noch ein meiner Meinung nach sehr guter Buchtipp: Basic Kanji Book: 1
Viel Spaß und Erfolg an alle Lernenden. お互い頑張ろう!